Die Kulturhauptstadt als Plattform für Identitätspolitik
Der Artikel untersucht die europäische Kulturhauptstadtinitiative als dynamisches Instrument kultureller und urbaner Transformation. Beginnend mit der Entwicklung des Programms in vier verschiedenen Konzeptphasen wird nach den intendierten sozialen und kulturellen Transformationen gefragt. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion zur Frage der regionalen Identität des Salzkammerguts wurden Themen wie Sprache, Tracht und Zugehörigkeit angesprochen. Ich erkenne eine ambivalente Natur der vermeintlichen ‘Identitätsmarker’ und schlage sowohl ein offenes als auch prozesshaftes Verständnis von ‘Identität’ vor.
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Die Initiative der Europäischen Kulturhauptstadt: Das Gegenteil inhaltlicher Starrheit
1985 wurde auf Vorschlag von Melina Mercouri, der Kulturministerin der Europäischen Gemeinschaft, das Konzept der Kulturhauptstadt Europas ins Leben gerufen. Das Ziel der Initiative war es, die kulturelle Vielfalt europäischer Städte zu feiern, die kulturellen Bande zwischen den Mitgliedsstaaten zu stärken und ein Bewusstsein für eine europäische Bevölkerung zu schaffen (vgl. Laux 2022). Die Initiative hat sich im Laufe der Jahre von einem symbol- und europapolitischen Projekt zu einem performativen Entwicklungsinstrument spezifischer Räume mit einem klaren, von der EU festgelegten, rechtlichen und operationellen Rahmen entwickelt. Beatriz Garcia, eine Expertin für kulturgeleitete Stadtentwicklung, sowie Tamsin Cox, spezialisiert auf Kulturpolitik und -forschung, beschreiben den Verlauf der Konzeptentwicklung als einen Prozess, der in drei Phasen unterteilt werden kann: 1985 bis 1996, 1997 bis 2004 und 2005 bis 2019 (vgl. Garcia & Cox 2013a, online). Diese Einteilung erklärt sich durch formale und operative Veränderungen. Die Stadt Glasgow, die 1990 den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt (KHS) trug, steht heute sinnbildlich für die Tendenz der zweiten Phase hin zu kulturbasierten Erneuerungsinitiativen. Die Kulturhauptstadt-Initiative wurde als ein Impulsgeber für städtische Umgestaltung verstanden. Sie war somit nicht länger eine Auszeichnung, in deren Rahmen ‘hochkulturelle’ Errungenschaften (klassische und etablierte Kunstformen wie Theater, Oper, Malerei, Literatur und Musik) der Vergangenheit präsentiert wurden, sondern eine Plattform, die
kulturelle Entwicklung und städtische Transformation fördert. In der dritten Phase wurde die Einbeziehung der Bürger:innen in den angestrebten kulturellen und sozialen Wandel zum festen Bestandteil der EU-Vorgaben. Eine 2014 beschlossene Reform, die 2020 in Kraft trat, verlangt nun, dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen vermehrt in die Gestaltung der Kulturhauptstadt eingebunden werden und dass Strategien vorgestellt werden müssen, die einen langfristigen sozialen und kulturellen Wandel versprechen (vgl. Garcia & Cox 2013a, online; Garcia & Cox 2013b, online; Laux 2022).
Die inhaltliche Weiterentwicklung der Kulturhauptstadt-Initiative weist einen prozesshaften Charakter auf. Diese Prozesshaftigkeit steht im Mittelpunkt des vorliegenden Artikels. Im Rahmen des Projektes Die große Pose, die der bekannte oberösterreichische Journalist und Fernsehmoderator Tarek Leitner für das Veranstaltungsjahr ins Leben gerufen hatte, wurden Porträtbilder von Menschen aus Bad Goisern aus den letzten 30 Jahren des letzten Jahrhunderts entlang der Oberen Marktstraße in Bad Goisern vom 20. bis 28. Juni 2024, auf großen Tafeln angebracht. Die Fotografien stammen aus dem Räumungsbestand des örtlichen Fotoateliers (vgl. Die Große Pose 2024, online). Bei den auf der Straße ausgestellten Bildern handelt sich um Porträtfotografien, die einer gezielten Selbstinszenierung lokaler Personen folgen. Sie zeigen Menschen wie sie gesehen werden wollten.
Im Rahmen einer Podiumspräsentation am 25. Juni 2024 in Bad Goisern, die wir in unserer ethnographischen Forschungsreise besuchten, stellte der dem Ort verbundene Journalist Leitner den visuellen Fundus des Fotoateliers der Familie Fettinger vor, bevor er am 28. Juni 2024 an die Gemeinde Bad Goisern übergeben wurde. Thema der öffentlichen Veranstaltung mit Publikumsbeteiligung war die Frage nach der regionalen Identität: „Wer sind wir, was waren wir, was sind wir? – Der Trubel um Identität” (ebd., online).
Identitätsverhandlungen: Wer sind wir?
In der Podiumsdiskussion diskutierten die eingeladenen Gäste Helga Rabl-Stadler, Marie-Theres Arnbom, Julia Müllegger, Manuela Tomic und Brigitte Mittendorfer ‘Marker’ regionaler Identität wie besonders Sprache und Tracht. Das Publikum rekrutierte sich offensichtlich aus lokal Ansässigen und Interessierten. Das Durchschnittsalter der Besucher:innen der Diskussion lag schätzungsweise bei 60 Jahren. Viele der Teilnehmenden kannten sich untereinander, so dass ich davon ausgehe, dass sie aus Bad Goisern selbst oder zumindest aus der Region kamen. Ein Großteil der älteren Zuhörer:innen erschien in Tracht.
Dialekt und Tracht als Identitätsbausteine
Das am meisten betonte ‘Attribut’ regionaler Identität war die Sprache bzw. der lokale Dialekt. Goiserer:innen würden durch das Sprechen des lokalen Dialekts quasi zweisprachig aufwachsen, merkte eine Person aus dem Publikum an, und erklärte, dass der Verlust des örtlichen Dialekts mit einem schleichenden Verlust der eigenen Identität einhergehen würde. Sprache sei das soziale Element, das am stärksten Verknüpfungen zwischen Menschen herstelle und den sozialen Austausch dominiere. Die Beherrschung des lokalen Dialekts sei somit unverzichtbar, wolle man Anschluss in einer Sprachgemeinschaft finden. Eine ältere Dame, die direkt zu meiner Linken saß und durch gemurmelte Kommentare entlang der Diskussion eine konservative Haltung zur verhandelten ‘Identitätspolitik’ erkennen ließ, kommentierte einen Beitrag aus dem Publikum mit Herkunftsverweisen: “Die ist eine Zuagroaste [Zugezogene], die ist aus Tirol, das höre ich sofort” (Feldnotizen, 2024). Später erzählte die gleiche Dame dem Publikum und Podium eine Anekdote: Eine aus Wien stammende Babysitterin hätte sich erkundigt, ob ihr Kind denn auch Hochdeutsch spreche, da sie Schwierigkeiten hätte, den Dialekt zu verstehen. Aus Verdruss und Empörung habe sie mit dem Mädchen nur noch in einem starken goiserer Dialekt kommuniziert.
In Wortbeiträgen wie diesen fungierte die Sprache bzw. der lokale Dialekt als Werkzeug zur Abgrenzung des ‘Eigenen’ vom ‘Anderen’ und wurde aktiv zur Herstellung von Ausgrenzung instrumentalisiert. Auffallend war eine zunehmend konservative Grundhaltung im Publikum während der Diskussion. Es schien mir, als hätten die Anwesenden erst den ‘Mut’ entwickeln müssen oder eher eine ‘Absicherung’ durch vorgehende Bemerkungen konservativer Natur gebraucht, um die eigene Meinung kundzutun. So meinte etwa eine Person aus dem Publikum scherzhaft, beinahe bissig, dass sie während des Veranstaltungsjahres kein Dirndl tragen würde, “sonst könne man sie ja für eine Wienerin halten” (Feldnotizen, 25.06.2024). Eine andere Person ergänzte: “dass man die ‘verkleideten’ Wienerinnen [die ein Dirndl tragen] bereits am Gang erkennen würde” (ebd.) und erntete Beifall und Gelächter aus dem Publikum. Die Aushandlungen über die Bedeutung des Dialekts während der Podiumsdiskussion zeigten mithin nach außen abgrenzende Positionierungen regionaler Identität und Spezifik sowie Distanz zu Gästen der beliebten Urlaubsregion.
Ein zweites breit diskutiertes ’Identitätsmerkmal’ stellte die Tracht dar. Das Tragen von Tracht ist ein Politikum in der Region. Tracht ist mit ,Tradition’ konnotiert, einem politisch aufgeladenen Konzept. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht argumentiert der Ethnologe Wolfgang Kaschuba, dass die Vorstellung ,authentischer’ historischer Tradition aktiv gerade in gesellschaftlichen Umbruchsituationen angesichts des empfundenen Unbehagen an der ,Moderne’ konstruiert worden seien (vgl. Kaschuba, 2012). Aus Sorge um den Verlust des “Wissens um historische Wurzeln und die Formen ihrer kulturellen Überlieferungen” (ebd.:170), kurz: ‘Traditionen’, wurden diese umso mehr gepflegt und zu Bausteinen regionaler Identität.
Die Wortmeldungen auf der Podiumsdiskussion bestätigten die Bedeutung der Tracht als ein zentraler kultureller Baustein der regionalen Identität des Salzkammerguts. Dadurch, dass sie sich so kleide wie die Leute vor Ort, würde sie sich als Aussenseiter:in sicherer fühlen, erklärte eine jüngere Dame aus dem Publikum, die sich als eine ins Salzkammergut ‘Zugezogene’ zu erkennen gab (vgl. Feldnotizen, 25.06.2024). Tracht hat zweifelsohne das Potenzial, Inklusion zu fördern, kann jedoch, ähnlich wie Sprache, auch Mechanismen der Ausgrenzung beinhalten. Nicht ohne Grund war es Jüd:innen während des Zweiten Weltkriegs nicht gestattet, sich in der lokalen Tracht zu kleiden [Kachel Nr 3]. Tracht wurde für politische Zwecke instrumentalisiert und das Nicht-Tragen zu einem Kennzeichen wie der ,Judenstern’, erklärte Leitner dem Publikum.
Inszenierung regionaler Identität durch Tracht
Das Kleidungsstück verkörpert vermeintliche historisch legitimierte ,Authentizität’. Als solches wird sie auch gezielt eingesetzt. Dies erschloss sich mir in einem Gespräch mit einer Rezeptionistin im Narzissendorf Zloam in der Ortschaft Archkogl in der Gemeinde Grundlsee. Sie trage gerne Tracht, es sei eine Arbeitskleidung, jedoch knüpfe sie ihre Identität nicht an das Kleidungsstück. Die Rezeptionistin erklärte mir, dass sie durch das Tragen des Dirndls den Besucher:innen regionale ,Authentizität’ vermitteln wolle. Wenn man das Salzkammergut nur von Postkarten kenne, erwarte man sich als Besucher:in auch, dass dieses Bild sich vor Ort bestätigt. Sie wolle “…diese Erwartungshaltung erfüllen.” (Informelles Gespräch, 26.06.2024).
Das Tragen von Tracht kann also bewusst als Signal an die von außen Kommenden fungieren. Die Rezeptionistin stellt sich und die Region auf eine stilisierte und vermeintlich authentische Weise dar, ein Phänomen, das der Volkskundler Hans Moser als ,Folklorismus’ bezeichnete, als “Vermittlung und Fortführung von Volkskultur aus zweiter Hand” (Moser 1962: 180). Dem Kleidungsstück haftet nicht zuletzt auch ökonomische Bedeutung an, da sowohl der Tourismus als auch lokale Schneider und Handwerker von ihr profitieren. Unzweifelhaft ist die Tracht heute Teil einer florierenden Industrie, deren auffällige Gewänder sowohl als Werbeträger als auch im Tourismus eine zentrale Rolle spielen (vgl. Trachtenbibel, online).
Bedeutungsinhalte und Zuschreibungen befinden sich in einem ständigen Fluss und stehen zu keinem Zeitpunkt still. Will man den Begriff ‘Identität’ mit der Tracht verknüpfen und über sie eine vermeintlich reale ‘Authentizität’ vermitteln, so ist dies so, als würde man einen Eimer in einen fließenden Fluss tauchen und dann behaupten, das Wasser im Eimer sei der Fluss selbst.
Impulse zur Transformation regionaler Identität
Die Podiumsdiskussion am 25.06.2024 in Bad Goisern war Teil des KHS Programmes und vermutlich Ausdruck der Bemühungen der Geschäftsführung, die KHS als eine Plattform zu nutzen, die langfristig sozialen Wandel ankurbeln soll. Diese Intention wird im Programm der Kulturhauptstadt anhand mehrerer Projekte deutlich.
Bereits mit der Eröffnungszeremonie sorgte Doris Uhlich mit ihrem Pudertanz [Kachel Nr. 20] für einen kontrovers diskutierten Auftakt. Die zeitgenössische künstlerische Choreographie demonstrierte körperliche Vielfalt, Pluralität von Schönheit und Puder als Relikt ,bourgeoisen’ und ,kaiserlichen’ Erbes. Die Fotografin Catherine Ebser stellte öffentlich im Sisipark Porträtfotografien von Senior:innen in originellem Auftritt vor, um Anlass zu geben, ,Altern’ neu zu denken [Kachel Nr. 18]. Zur Vermarktung der KHS veröffentlichte das Programmteam schließlich auch ein Foto von einer Frau in Goldhaube mit einem Döner Kebap, um das Nebeneinander von ,Tradition und Moderne’ zu verdeutlichen [Kachel Nr. 14]. Entsprechend den EU-Vorschriften nutzt die Intendanz den Titel mithin, um gesellschaftspolitisch relevante und aktuelle Themen, wie die Frage nach Identitätsbausteinen neu zu verhandeln und kritisch zu reflektieren.
Aleida Assman, eine der führenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Erinnerungs- und kollektiven Gedächtnisforschung, argumentiert, dass die Merkmale, die vermeintliche ,Authentizität’ produzieren sollen, Symbolsysteme und Werteorientierungen sind, kurz: “Identitätsofferten” (Assman 2017, 221), die erst durch Zustimmung des Individuums ihre Wirksamkeit entfalten (vgl. ebd.). Damit lautet die Gretchenfrage regionaler Identität nicht: „Wer sind wir, was waren wir, was sind wir?” – sondern: „Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?”.
Podiumsdiskussion – Projekt: Die Große Pose in Bad Goisern
Literatur & Quellen
Assman, Aleida (2017): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. 4. Auflage. Berlin: Erich-Schmidt Verlag.
Bausinger, Hermann (1978): Identitäten. In: ders. u. a.: Grundzüge, 204-263.
O.V. (07.06.2024): Die Große Pose, [online], https://www.salzkammergut-rundblick.at/aktuelles/ 000007__news__63492.htm [05.12.2024].
Garcia, Beatriz & Cox, Tamsin (2013a): Kulturhauptstädte Europas: Erfolgsstrategien und langfristige Auswirkungen (Zusammenfassung). Europäisches Parlament, Fachabteilung B: Struktur- und Kohäsionspolitik, Brüssel, [online], https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ etudes/join/2013/513985/IPOL-CULT_ET(2013)513985(SUM01)_DE.pdf [05.12.2024].
Garcia, Beatriz & Cox, Tamsin (2013b): Kulturhauptstädte Europas: Langzeitwirkungen. Europäisches Parlament, Fachabteilung B: Struktur- und Kohäsionspolitik, Brüssel, [online], https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2013/513985/IPOL- CULT_ET(2013)513985_DE.pdf [05.12.2024].
Kaschuba, Wolfgang (2012): Einführung in die europäische Ethnologie. CH Beck.
Laux, Thomas (2022): Mobilisiert für Europa? Die Europäische Kulturhauptstadt und die Aktivierung der Zivilgesellschaft. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 35(2), 270-282.
Moser, Hans (1962): Vom Folklorismus in unserer Zeit, in: Zeitschrift für Volkskunde 58, 177-209.
Schönwald, Antje (2015): Alle an einem Strang? Zur Rolle von Identitäten und Stereotypen in der grenzüberschreitenden Kooperation. Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen. Das Beispiel der Großregion SaarLorLux: Wirtschaft–Politik–Alltag–Kultur, transcript Verlag, Bielefeld, 107-129.
Trachtenbibel (o.D.). Unsere Tracht & die Macht, [online], https://trachtenbibel.at/unsere-tracht-die-macht/ [12.12.2024].
Feldnotizen 2024, 25.06.2024.
Persönliche Kommunikation 2024, 26.06.2024.