Individuelles Erleben als Motor gesellschaftlichen Wandels
Seit der Einführung des Konzepts der europäischen Kulturhauptstadt im Jahr 1985 hat sich stetig verändert, was Städte und Regionen mit dem Kulturhauptstadt-Titel erreichen wollen und wie sie dies umsetzen (vgl. Mittag 2008/ vgl. Immler/Sakkers 2014). Welchen Weg geht nun die Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut? Ein genauer Blick auf die Veränderungsstrategien macht deutlich: Im Mittelpunkt steht das Hervorrufen von individuellen Erlebnissen durch ‚Kultur‘. Was sagt das über unsere aktuelle Gesellschaft? Lässt sich so Veränderung erreichen?
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Seit der Vergabe des ersten Kulturhauptstadttitels im Jahr 1985 zieht sich eine Vorstellung wie ein roter Faden durch die Konzepte und Umsetzungen dieses Events: die Idee, dass die Ausrichtung einer Kulturhauptstadt transformative Wirkung entfalten kann, wobei ‚Kultur‘ als Instrument dieser Veränderung dient (vgl. dazu Mittag 2008).
Auch bei der europäischen Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut ist dies nicht anders. So beginnt der Bewerbungstext zur Kulturhauptstadt im finalen Bewerbungsbuch von 2020 mit folgendem Satz: „Europa hat sein Gleichgewicht verloren“ (Bewerbungsbuch 2020: 5). Es ist nicht die einzige Textstelle, in der auf aktuelle Krisen und Herausforderungen Bezug genommen wird. Der Titel und das mit ihm verbundene Veranstaltungsprogramm sollen zur Lösung aktueller Probleme wie Klimawandel, Umweltzerstörung, Landflucht, Hypertourismus, Fachkräftemangel etc. beitragen. Die Autor:innen der Bewerbung und des Programms begründen so die Notwendigkeit der Realisierung der Kulturhauptstadt und drücken damit die Absicht aus, die Region verändern zu wollen (vgl. bspw. Bewerbungsbuch 2020: 5/ vgl. Programmbuch 2020: 7).
Nur wie soll das gelingen?
Veränderung über das Individuum
Die Autor:innen des Bewerbungs- und Programmbuchs gehen davon aus, dass Veränderung durch ‚Kunst und Kultur‘ bewirkt werden kann, indem Menschen diese erleben und individuelle Erfahrungen machen. Obwohl die Texte von unterschiedlichen Personen verfasst wurden, z.B. von Projektmitarbeitenden des Kulturhauptstadtteams, Programmschaffenden und Künstler:innen oder Politker:innen, betonen alle die Wirkung von ‚Kunst und Kultur‘ auf das Individuum. Sie gehen davon aus, dass die Kulturhauptstadt den einzelnen Menschen über ein Kunst- und Kultur-Programm zur Veränderung anregt und so die Gesellschaft insgesamt transformiert.
Das verwendete Vokabular verdeutlicht diese Vision: die Begriffe ‚erleben‘, ‚Erlebnis‘ und ‚erlebbar‘ kommen im Programm 45-mal und im Bewerbungsbuch 22-mal vor; ‚erfahren‘, ‚Erfahrung‘ und ‚erfahrbar‘ werden an 31 Stellen im Programm und an 66 Stellen im Bewerbungsbuch genannt (vgl. Bewerbungsbuch 2020; Programmbuch 2023).
Die Begriffe ‚erleben‘ und ‚erfahren‘ benennen individuelle Vorgänge, die Sinneseindrücke der einzelnen Person adressieren.
Bildung im Zentrum von Veränderung
Die meisten dieser ‚Erfahrungen‘ und ‚Erlebnisse‘ im Programm und der Bewerbung zielen darauf ab, Veränderung durch Bildung des einzelnen Menschen hervorzurufen z.B. durch Wissenserwerb und Wandel von Einstellungen und Emotionen. Ziel ist „eine neue Art zu denken“ (Bewerbungsbuch 2020: 5) und ein „anderer Blickwinkel“ (ebd.: 8), es geht um „Reflexion“ (ebd.: 20) und „neue Ideen und Impulse“ (ebd.: 5). Diese Vorgänge können als Bildungserfahrungen gesehen werden. Sie beziehen sich nicht nur auf veränderte Denkprozesse, sondern auch auf eine andere Art zu fühlen: „Das Neue SALZ mit neuen Ansichten öffnet unsere Herzen“ (ebd.: 5). Das Programm verspricht individuelle Veränderung, indem es „das genaue Erkennen“ (Programmbuch 2023: 18), „Neugierde“ (ebd.: 19), „Hinterfragen“ (ebd.: 19) und die „Auseinandersetzung“ (ebd.: 22) fördert, aber auch „Emotion erzeugt“ (ebd.: 37).
Individualisierung als gesellschaftliche Entwicklung
Der beschriebene Fokus auf die Veränderung beim Individuum kann als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung interpretiert werden. Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt den gesellschaftlichen Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg als schrittweises Abrücken von Gruppen- und Gemeinschaftsorientierung hin zum Fokus auf das Individuum, den einzelnen Menschen (vgl. Beck 1986: 116). Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielt dem Soziologen Nikolas Rose zufolge der immer stärker werdende Einfluss der Psychotherapie. Dieser führt zum aktuellen Trend gesellschaftliche Veränderung über die persönliche Weiterentwicklung der einzelnen Person anzustreben (vgl. Rose 2005:1-11).
Was heißt das nun für die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, wie sie die Kulturhauptstadt im Programm und der Bewerbung adressiert?
Die Bedeutung individuellen Wandels für gesellschaftliche Transformation
Der Soziologe Harmut Rosa beschreibt in seinem Konzept der Resonanz wie individuelle Erfahrungen zu Veränderung beitragen können (vgl. Rosa 2016). Menschen machen laut Rosa Resonanzerfahrungen, wenn sie sich auf andere Menschen, Dinge, Tätigkeiten oder spirituelle Themen einlassen (ebd.: 296ff). Sie seien geprägt von dem Gefühl berührt zu werden und selbst zu berühren (ebd. 298). Rosa zufolge zeichnen sich Resonanzerfahrungen dadurch aus, dass sie immer eine gewisse Veränderung bewirken (ebd. 318). Wichtiger Teil ist dabei das Erleben von Selbstwirksamkeit – also dem Eindruck selbst etwas verändern zu können. Rosa beschreibt, wie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu mehr gesellschaftlichem Engagement führen kann (ebd.: 269-281).
Auch weitere Forschende im Bereich der Sozial- und Kulturanthropologie kommen zum Ergebnis, dass persönliches Erleben zu politischem Engagement führen kann, insbesondere wenn es auf starken sensorischen Eindrücken und Emotionen beruht (vgl. Pink 2008/ vgl. Davidson/Brash 2021). Individuelle Erfahrungen können somit als wichtige Bestandteile von gesellschaftlichem Wandel gesehen werden.
Die fortschreitende Individualisierung in der Gesellschaft in Bezug zu transformativen Prozessen wird auch kritisch gesehen. So hat diese Entwicklung beispielsweise zur Folge, dass gesellschaftliche Herausforderungen häufig nicht als strukturelle, auf politischer Ebene zu lösende Probleme erkannt, sondern als Probleme wahrgenommen werden, die auf individueller Ebene lösbar sind (vgl. Beck 1986: 118/ vgl. Bröckling 2007: 164).
Auch bestimmte Positionen des Politikwissenschaftlers Ulrich Brand und des Soziologen Harald Welzer lassen sich als Kritik an stark auf das Individuum ausgerichteten Transformationsstrategien interpretieren. Sie argumentieren, dass gesellschaftlicher Wandel durch praktische, kollektive Arbeit an Alltagsproblemen wirksamer angestoßen wird, als durch bloße Appelle oder reine Wissensvermittlung auf individueller Ebene (vgl. Brand/Welzer 2019: 326ff). Sie sprechen sich daher dafür aus, die gemeinsame Arbeit an konkreten Problemen als Transformationsstrategie stärker zu verfolgen (ebd.).
Fazit
Abschließend möchte ich diese Einblicke in die Bedeutung von individueller Veränderung für gesellschaftliche Transformation nutzen, um Schlussfolgerungen zu ziehen und konkrete Handlungsimpulse für die Gestaltung des Kulturhauptstadt-Programms zu geben.
Zum einen komme ich zur Erkenntnis, dass individuelle Erfahrungen eng mit der konkreten Bearbeitung struktureller Probleme verknüpft werden sollten. Für das Programm einer Kulturhauptstadt könnte dies bedeuten, über das Setzen von Impulsen hinaus zu gehen und Formate verstärkt auf das Bearbeiten zentraler Herausforderungen wie Naturschutz oder Landflucht auszurichten. In diesem Kontext würde sich auch die Rolle von ‚Kunst und Kultur‘ als Mittel zur Transformation verändern. Sie könnte beispielsweise dazu beitragen, konkrete Veränderungen auf eine kreative und innovative Art anzustoßen.
Zum anderen leite ich vor allem von Hartmut Rosas Arbeit zur Resonanz ab, dass individuelle Erfahrungen eine bestimmte Qualität aufweisen müssen, um Wandel auf gesellschaftlicher Ebene voranzubringen. Programmformate im Kontext der Kulturhauptstadt sollten also so konzipiert sein, dass sie Resonanzerfahrungen leichter ermöglichen. Wie dies umgesetzt werden kann, zeigt das Beispiel des Wollsymposiums der Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut (hier klicken).
Literatur & Quellen
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne. 1. Aufl., Erstausg. Edition Suhrkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bewerbungsbuch (2020): „Bewerbungsbuch Endauswahl. Bad Ischl-SKGT24 Kulturhauptstadt Europas“, [online], https://www.salzkammergut-2024.at/wp-content/uploads/2022/11/kulturhauptstadt-salzkammergut-pdf-DEUTSCH_Bewerbungsbuch.pdf [01.09.2024].
Brand, Ulrich/Welzer, Harald (2019): „Alltag und Situation: Soziokulturelle Dimensionen sozial-ökologischer Transformation“. In Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, 332. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25947-1_17.
Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. 1. Aufl. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1832. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Davidson, Elsa/Brash, Julian (2021): „Sensorial Politics“. Environment and Planning C: Politics and Space 39 (6): 1069–78. https://doi.org/10.1177/23996544211034186.
Immler, Nicole L./Sakkers, Hans (2014): „(Re)Programming Europe: European Capitals of Culture: Rethinking the Role of Culture“. Journal of European Studies 44 (1): 3–29. https://doi.org/10.1177/0047244113515567.
Mittag, Jürgen (2008): Die Idee der Kulturhauptstadt Europas: Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik. 1. Aufl. Essen: Klartext.
Pink, Sarah (2008): „Sense and Sustainability: The Case of the Slow City Movement“. Local Environment 13 (2): 95–106. https://doi.org/10.1080/13549830701581895.
Programmbuch (2023): „Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024“, [online], https://www.salzkammergut-2024.at/wp-content/uploads/2024/01/Programmbuch-Salzkammergut-2024-v2.pdf [01.09.2024].
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin, GERMANY: Suhrkamp Verlag. http://ebookcentral.proquest.com/lib/univie/detail.action?docID=5776669.
Rose, Nikolas S. (2005): Governing the Soul: The Shaping of the Private Self. 2. ed., [Reprint]. London: Free Association Books.