Die Profilierung der KHS Bad Ischl über Kultur
Das Salzkammergut war und ist eine transkulturelle Kontaktzone. Zuerst durch die industrielle Salzgewinnung, dann den Tourismus und heute durch den Einfluss städtischer und europäischer Kulturvorstellungen. Aber was ist ‚Kultur‘, eine Ware, ein Prozess, ein Katalysator für Veränderung?
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Die Region Salzkammergut rund um Bad Ischl ist seit Beginn des Jahres 2024 Europäische Kulturhauptstadt. Das damit verbundene Programm steht unter dem Motto „Kultur ist das neue Salz“. Dieser prägnante Satz ist eine Ansage. Er geht auf die Geschichte der Region ein, die durch Salzgewinnung wohlhabend und bekannt geworden ist. Gleichzeitig spricht er eine notwendig gewordene Veränderung an, die durch den Einsatz von Kultur zustande kommen soll. Kultur verspricht neuen ‚Reichtum‘ in Form einer gesellschaftlichen Bereicherung und Veränderung. Aber was genau ist mit ‚Kultur‘ gemeint?
Wissenschaftliches Kulturverständnis
Kultur ist ein sehr häufig und fast inflationär gebrauchter Schlüsselbegriff mit vielschichtigen Bedeutungen – sowohl in kultur-theoretischer Perspektive als auch im alltäglichen Gebrauch.
Verschiedene Geisteswissenschaften beschäftigen sich mit ‚Kultur‘ und verwenden divergierende Kulturbegriffe. In den Sozialwissenschaften sind damit gesellschaftliche Zusammenhänge gemeint, die Kunstgeschichte (Kunst als Teilbereich von Kultur) geht von einem ästhetisch-künstlerischen Kulturverständnis aus, meint aber oft Kunstgenres, während für die Anthropologie und die Ethnologie alles Kultur sein kann, im Sinne von Alltagskultur und Identität.
Seit Immanuel Kant, der Kultur dem Begriff ‚Zivilisation‘ gegenüberstellte (Reckwitz 2006: 67), bemühen sich Philosoph:innen und Kulturwissenschaftler:innen um eine Definition und spätestens seit den 1930er Jahren gibt es unterschiedliche und nebeneinander wirksame Kulturtheorien.
Nachhaltig verändert und erneuert hat sich der Begriff Kultur im Zuge des sogenannten Cultural Turn um 1970. Wolfgang Kaschuba, ein bedeutender europäischer Ethnologe, bringt den Cultural Turn in dem Band Begriffe der Gegenwart in Zusammenhang mit den dramatischen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der späten 1960er und 70er-Jahre. Der hierarchische und elitäre Begriff ‚Hochkultur‘ verändert sich zu einer sehr viel breiteren Gesellschaftskultur.
„‚Culture‘ soll nunmehr ‚the whole way of life‘ meinen, also ‚das ganze Leben‘ in all seinen sozialen Formen und Formationen. Dieser Vorschlag hebt die falsche Trennung von Hochkultur und Massenkultur auf […]“
(Kaschuba 2022: 174).
Durch den Cultural Turn wurde der Kulturbegriff nicht nur breiter, sondern auch vielfältiger und in gewisser Weise unübersichtlich. Mit Kultur war nicht mehr nur der Konsum von Kunstgenres (wie Musik, Theater, bildende Kunst) gemeint, sondern der gesamte Alltag. ‚Kultur‘ war nun auch, wie Menschen zusammenleben, gemeinsame oder unterschiedliche Werte bilden und letztlich auch neue Vorstellungen von sozialen und nationalen Identitäten entwickeln.
„Mit der damaligen [Cultural Turn] Vergesellschaftung und Politisierung des Kulturbegriffs bildeten sich neue populäre Kulturformen und demokratische Kulturmuster ebenso heraus wie neue Ich- und Wir-Bilder” (Kaschuba 2022: 171).
Innerhalb dieses Kulturverständnisses gibt Kultur den Menschen in einer Gemeinschaft Orientierung, gleichzeitig ist jeder Mensch an der Entwicklung und Gestaltung von Kultur beteiligt.
Für die Kulturhauptstadt Bad Ischl ist dieser Zusammenhang zwischen der gegenseitigen Einflussnahme von Gesellschaft/Individuum, Politik und Kultur von Bedeutung, besonders in einem medial vernetzten und offenen Europa. Das bestätigt die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick im Online-Medium ‚Docupedia-Zeitgeschichte‘ in Bezug auf den Cultural Turn:
„Die größte Erklärungskraft für die Herausbildung von turns bietet […] deren Rückbindung an gesellschaftlich-politische Prozesse […]“ (https://docupedia.de/zg/Bachmann-Medick_cultural_turns_v2_de_2019).
Kulturbegriffe in Bad Ischl Salzkammergut
Der Begriff ‚Kultur‘ hat eine zentrale Bedeutung im Programm der Kulturhauptstadt Bad Ischl – Salzkammergut. Schon allein der Titel Europäische Kulturhauptstadt verweist auf die Relevanz von ‚Kultur‘. So kann das gewählte Motto als Aufforderung gelesen werden, das ‚Salz‘ als identitätsstiftendes Symbol und ökonomischer Wert in der Region mit ‚Kultur‘ zu ersetzen, über die sich Identitäten formen und die Wert hat.
Aus meiner Analyse ist ersichtlich, dass der Bedeutungsinhalt von Kultur sehr breit geworden ist. Wie unterschiedlich das gewählte Motto ‚Kultur ist das neue Salz‘ interpretiert werden kann, und was das für die Umsetzung des Programms bedeutet, möchte ich im Folgenden darlegen. Der Radius der Interpretationsmöglichkeiten wird durch das individuelle, subjektive Kulturverständnis verschiedener Akteur:innen zusätzlich vergrößert.
Die Anthropologin Barbara Grabher, die zu Kulturhauptstädten forscht und die Kulturhauptstadt Bad Ischl untersuchend begleitet, sieht in dem Motto eine Entwicklungsperspektive. Die Verwendung von ‚Kultur‘ innerhalb der europäischen Kulturhauptstadt hätte sich seit den 1980er Jahren verändert von einem „Wir zeigen die Diversität und die Vielfalt Europas“ zu einem „Wir verwenden jetzt Künstler, Künstlerinnen und deren Arbeiten, um Städte zu regenerieren“. Die Verwendung gehe jetzt in Richtung eines anthropologischen Kulturbegriffs, nämlich der „Generierung von Bedeutung“ (Interview Juni 2024):
„Salz hat speziell Bad Ischl, aber das Salzkammergut allgemein extrem verändert durch die Jahrtausende hindurch. Es ist […] irgendwie so der Anspruch, Kultur kann jetzt das machen, was das Salz früher gemacht hat“
(Interview Juni 2024).
Der neoliberale Leistungsgedanke ist die vordergründige Interpretation des Mottos. Kultur muss als Ware verwertbar und in Form von Kunst, Sportveranstaltungen und Gastronomie konsumierbar sein. Diese erwartbare und verständliche Position nimmt die Bürgermeisterin von Bad Ischl Ines Schiller ein, die als SPÖ – Politikerin für die wirtschaftliche Entwicklung der Region verantwortlich ist:
„Es soll auf jeden Fall nachhaltig was bleiben. Also eine Nachfolgestruktur soll es geben. […] Wir wollen den qualitativ hochwertigen Tourismus, […] dass Leute länger kommen und einfach den Mehrwert der Region als Gesamtes sehen“ (Interview Juni 2024).
Obwohl das Motto ‚Kultur ist das neue Salz‘ auf den ersten Blick dem neoliberalen Kulturkapitalismus entspricht (vgl. Reckwitz 2017: 15f), und somit dem Produkt Kultur zutraut, das industriell verwertbare Produkt Salz zu ersetzen, sind nicht alle in der Kulturhauptstadt engagierten Mitgestalter:innen von diesem Potenzial überzeugt. So meinte der Kurator Gottfried Hattinger, der sich im Interview selbst als „kulturellen Auftrags- und Saisonarbeiter“ bezeichnet, dass „Kultur also als lebenswichtig angesehen wird [wie Salz] für eine zivilisierte und gebildete Existenz,“ tatsächlich müsse man den Warencharakter von Kunst und Kultur jedoch hinterfragen, denn nur wenige Kulturschaffende könnten davon leben:
„Mit dem Begriff ‚Kulturindustrie‘ wurde in den 1960er Jahren ‚Kunst als Ware‘, also die Reduktion auf die Warenform künstlerischer Produktion kritisiert. Heute ist es der ‚Kunstmarkt‘, der vor allem von Kunstgalerien dominiert wird. Von den Kunst- und Kulturschaffenden können wenige von ihrer Tätigkeit leben. Tatsächlich gibt es auch kaum Kulturbetriebe, die nicht von staatlichen Subventionen abhängig sind“
(Interview Juni 2024).
Das Motto der Kulturhauptstadt müsse man „ohnehin nicht so ernst nehmen“, meint der Journalist, Schriftsteller und Literaturkritiker Günter Kaindlsdorfer im Interview mit mir. Es sei nur ein Marketing Tool, das dem Salzkammergut einen neuen Markenkern verschaffen soll. Tatsächlich passiere in der Region etwas viel Innovativeres:
„Also was wirklich auffällig ist, ist die Kleinteiligkeit. […] Was heißt Kultur im 21. Jahrhundert? Die Fragen der Zeit werden bis in die hinterste Ortschaft in die Ecken, in die Vereine und zivilgesellschaftliche Gruppen hineingetragen“ (Interview Juni 2024).
Einen visionären Impuls verdankt die Kulturhauptstadt vor allem Elisabeth Schweeger. Die Literaturwissenschaftlerin, Kulturmanagerin und Intendantin möchte aus ihrer Profession heraus Kunst und Kultur nützen, um gesellschaftliche Defizite aufzuzeigen sowie Dialog und Partizipation in der Gesellschaft fördern:
„Natürlich wird die Kunst, […] was das Format Kulturhauptstadt bedeutet, bis zu einem gewissen Grad dafür auch eingesetzt, um gesellschaftliche Defizite zur Sprache zu bringen. […] Auf der anderen Seite hat der Künstler, die Künstlerin auch ein visionäres Potential, das wir in die Gesellschaft hineingeben wollen. Es ist ein Gespräch, eine, sozusagen, Gesprächsaufforderung“ (Interview Juni 2024).
Die verschiedenen Interpretationen des Mottos deuten darauf hin, dass ‚Kultur‘ entsprechend dem herrschenden neoliberalen Zeitgeist eine ganz bestimmte Funktion zugeschrieben wird: Sie soll der Gesellschaft nützen und verwertbar sein.
Aber es gibt Zwischentöne. Die Erwartungen an die Kultur sind hoch, aber nicht nur materiell. Geprägt sind die unterschiedlichen Interpretationen der Gestalter:innen der Kulturhauptstadt sowohl vom herrschenden Zeitgeist, dem Kulturbegriff seit dem Cultural Turn, als auch von der persönlichen Funktion und Einstellung, die die Gestalter:innen mitbringen.
So nehmen die am Programm mitwirkenden Künstlerinnen Sophie Krier und Daniela Brasil eine sehr kritische Haltung ein. Sie lehnen die Gleichsetzung von Kultur und Salz dezidiert ab, weil sie an der Industrialisierung von Kultur nicht teilnehmen wollen:
“I hope that culture is not as extractivist as saltmining is. […] And so if you say culture is salt, then you have that connotation in your mind. Then culture becomes the next industry” (Interview Daniela Brasil, Juni 2024).
“Being in that cycle or in that kind of reconnecting salt to culture is to cultivate, it’s not to cultivate something that is life, but it’s to cultivate the capitalist system” (Interview Sophie Krier, Juni 2024).
‚Kultur salzt Europa‘
Nicht nur das Motto ‚Kultur ist das neue Salz‘ wurde verwendet, sondern auch der zusätzliche Slogan ‚Kultur salzt Europa‘. Bezieht sich ersteres noch eindeutig auf die Region Bad Ischl Salzkammergut, ist die Öffnung zu Europa im zweiten vollzogen. Salz symbolisiert hier nicht mehr eine industrielle Ware, sondern setzt einen Bezug zur Fähigkeit von Salz, Geschmack zu erhöhen und somit eine Verbesserung und Steigerung zu erzeugen.
Literatur & Quellen
Kaschuba, Wolfgang (2022): Kultur, in: Schmidt-Lauber, Brigitta/ Liebig, Manuel (Hrsg.), Begriffe der Gegenwart, ein kulturwissenschaftliches Glossar, Wien: Böhlau Verlag, Vandenhoeck & Ruprecht.
Reckwitz, Andreas (2006): Die Transformation der Kulturtheorien, Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist:Velbrück Wissenschaft.
Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten, Zum Strukturwandel der Modernen, Berlin: Suhrkamp.
https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/cultural-turn/3073
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59917/vielfalt-der-kulturbegriffe
https://docupedia.de/zg/Bachmann-Medick_cultural_turns_v2_de_2019
Interviewpartner:innen:
Brasil, Daniela (mit Sophie Krier), 27.6.2024 Bad Ischl, Länge 38 Minuten
Grabher, Barbara, 26.6.2024 Bad Ischl, Länge 39 Minuten
Hattinger, Gottfried, 26.5.2024, schriftlich per e-mail, Länge 2 ½ Seiten
Kaindlstorfer, Günter, 5.6.2024, online per Zoom, Länge 20 Minuten
Kaineder, Teresa, 28.6.2024 Bad Ischl, Länge 39 Minuten
Krier, Sophie (mit Daniela Brasil), 27.6.2024 Bad Ischl, Länge 38 Minuten
Schiller, Ines, 24.6.2024 Bad Ischl, Länge 16 Minuten
Schweeger, Elisabeth, 28.6.2024 Bad Ischl, Länge 13 Minuten