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Erinnerungskultur und Aufarbeitungspolitik in Bad Ischl nach dem Zweiten Weltkrieg

Entnazifizierung und Restitution prägten die Nachkriegsjahre auch im Salzkammergut. In Bad Ischl waren zahlreiche Einheimische nach Kriegsende weiterhin antisemitisch eingestellt.

Zur Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur plante das Organisationsteam der Kulturhauptstadt Salzkammergut Bad Ischl 2024 zahlreiche Aktivitäten, die auch die dunklen Seiten der Ischler Vergangenheit aufzeigen und nachhaltig auf das individuelle und kollektive Gedächtnis einwirken sollen.

Was ist Erinnerungskultur?

Seit den 1990er-Jahren, nachdem die kommunistischen Regime in West- und Osteuropa zusammengebrochen waren, hat der Begriff ‚Erinnerungskultur‛ seinen Platz in der Wissenschaftssprache gefunden und ist seitdem ein Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung geworden (vgl. Cornelißen 2012: 2). Der deutsche Historiker Christoph Cornelißen, dessen Schwerpunkte die Neuere und Neueste Geschichte mit Fokus auf die die Erinnerungskultur sind, definiert Erinnerungskultur wie folgt:

„Erinnerungskultur ist als ein formaler Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozessen zu verstehen, seien sie nun ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur. […] Es umschließt sowohl den geschichtswissenschaftlichen Diskurs als auch die privaten Erinnerungen, sofern sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben. Die Kulturträger können Individuen sozialer Gruppen oder sogar Nationen sein. Diese können übereinstimmend, aber auch kontrovers handeln“ (Cornelißen 2012: 2).

Der österreichische Historiker Florian Schwanninger dokumentiert in seinem Artikel Erinnern und Gedenken in Oberösterreich akribisch und chronologisch, wie die Aufarbeitung in den einzelnen Städten und Regionen Oberösterreichs einerseits durch die damaligen Parteien und die jeweilige Landesregierung, anderseits durch Privatinitiativen wie Opferorganisationen erfolgte (vgl. Schwanninger 2013).

Im Salzkammergut gab es bis vor kurzem fast keine Hinweise für die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur im öffentlichen Raum. Diesen Status quo nützt nun die Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut 2024, um eine kritische Auseinandersetzung mit jener Zeit zu fördern, dazu zählen auch Programmpunkte, die die historische Aufarbeitung der Nachkriegsjahre thematisieren.

Das Salzkammergut zu Kriegsende

1945 zählte das Salzkammergut zu einer der letzten Kampfstätten des Dritten Reichs. Bei der Befreiung stieß die vorrückende US-Armee auf Konzentrationslager wie Mauthausen, aber auch auf Bergwerksstollen wie Ebensee, in denen Raubkunst gelagert worden war. Bereits vor der Befreiung hatten Widerstandskämpfer:innen Kontakt mit den herannahenden US-Truppen aufgenommen und trugen so zur Übergabe des Ausseerlandes an die US-Streitkräfte bei (vgl. Quatember et.al. 2024: 146ff.). Widerstandsgruppen, anfangs vor allem Kommunisten und Kommunistinnen, formierten sich schon zu Beginn des sogenannten ‚Anschlusses Österreichs῾ an Hitler-Deutschland. Ihre Intention war es, die Deutsche Wehrmacht zu schwächen und so den Krieg zu verkürzen und die regimekritische Haltung der Bevölkerung zu stärken. Die Widerstandskämpfer:innen waren gut vernetzt, verteilten selbstproduzierte Flugblätter, halfen Deserteuren und verübten Anschläge. Mutige Frauen unterstützten die Mitglieder der Widerstandsgruppen, indem sie sie mit Lebensmittel, Medikamenten, Waffen u.a. versorgten. So belieferte beispielweise Resi Pesendorfer in Bad Ischl unter Lebensgefahr die Widerstandsgruppe ‚Willi-Fred‘ mit Waffen und Munition. (vgl. Strasser et al. 2024: 23ff.).

In der Nachkriegszeit wirkte das NS-Gedankengut noch nach. Es gab noch lange Zeit viele sympathisierende Personen. Ebenso waren antisemitische Einstellungen existent. Zahlreiche Überlebende, unter ihnen viele Juden und Jüdinnen, sogenannte displaced persons (DP), waren im Hotel ‚Goldenes Kreuz῾ in Bad Ischl untergebracht. Einheimische empfanden sie als ‚Störfaktor῾ (Strasser et al: 2024:45) im Tourismusort. Vorgeworfen wurde ihnen zudem, dass sie eine bessere Versorgung hätten als die Ortsansässigen und diese deshalb weniger Nahrungsmittel bekämen. Aufgehetzt durch einschlägige Zeitungsartikel und kommunistische Agitatoren:innen protestierten 1947 rund 200 Personen gegen den Entzug von Frischmilch für ihre Kinder. Erst nach Stunden konnte die Aktion beendet werden. Die Anführer:innen wurden ein paar Tage später verhaftet und vom US-Militärgericht zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Nach Protesten der österreichischen Regierung, der Gewerkschaft und anderer Verbände wurden die Strafen herabgesetzt. Kritisiert wurde, dass ehemalige Nazis milder bestraft wurden, während Angehörige der Kommunistischen Partei einen langjährigen Arrest ausfassten (vgl. Strasser et al.: 2024:45 ff.; Quatember et al.: 2024: 165ff.).

Entnazifizierung und Restitution

Bereits wenige Wochen nach Kriegsende begann die provisorische österreichische Regierung, sich mit den Gesetzesgrundlagen für Entnazifizierung zu beschäftigen. Mit dem im Mai 1945 beschlossenen Verbotsgesetz wurden die NSDAP und ihre Unterorganisationen aufgelöst. NS-Funktionäre und Funktionärinnen wurden ihrer Ämter enthoben und ab einem gewissen Dienstrang interniert. Aktive Parteimitglieder wurden vom politischen Leben ausgeschlossen (vgl. Quatember et al.: 2024: 181f.).

Bis 1947 betrieben die US-Amerikaner:innen in ihrer Besatzungszone, in der auch Bad Ischl lag, ihre eigenen Entnazifierungsstrategien. Anfangs agierte die US-Armee sehr engagiert und ging überaus bürokratisch vor. Doch mit Beginn des Kalten Krieges verloren die Amerikaner:innen ihr Interesse an den Entnazifierungsverfahren. Bei den 1949 stattfindenden Nationalratswahlen waren zahlreiche ehemalige Nationalsozialisten:innen wieder stimmberechtigt und galten somit als rehabilitiert.

Einige ehemals hochrangige nationalsozialistische Parteimitglieder:innen konnten sich ihrer Verhaftung durch Flucht entziehen oder stellten ihre Tätigkeiten während des Dritten Reichs als minder belastend dar (vgl. Schwanninger 2013: 175f). So auch Wilhelm Haenel, der in Bad Ischl an 35 Zwangsverkäufen beteiligt war. Er täuschte die US-Behörden, die ihn zuerst als Kriegsverbrecher anklagen wollten. Er sagte aus, dass er nur eine Villa in Ischl besitze. Diese war und ist mit Kunstschätzen und Antiquitäten vollgeräumt und konnte bis vor einigen Jahren als Museum besucht werden. Nach vierjähriger Haft und einer Bußgeldzahlung von 100 Mark lebte Haenel als geachteter Bürger in der Kurstadt (vgl. Strasser et al.: 2024: 28ff.).

In Österreich gab es lange Zeit keine konkreten Konzepte, wie mit enteignetem Vermögen umgegangen werden soll. Am 15.Mai 1946 wurde das ‚Nichtigkeitsgesetz῾ erlassen, in dem der Vermögensentzug während der NS-Ära für ungültig erklärt wurde. Um einen Anspruch geltend zu machen, musste jede:r ehemalige Inhaber:in eines arisierten Besitzes einen Antrag stellen. Da viele von ihnen den Krieg nicht überlebt hatten, mussten noch lebende Nachkommen ein Rückstellungsansuchen stellen. Die Behörden waren nicht an einer schnellen Lösung interessiert und verzögerten durch bürokratische Hürden die Restitution. Manche ursprünglichen Eigentümer: innen bzw. deren Erbberechtigte mussten sogar den entzogenen Besitz zurückkaufen, um so die angeblichen Aufwendungen, die zwischen 1938 und Kriegsende getätigt worden waren, zu entschulden. Andere verzichteten auf die Rückgabe des enteigneten Guts (vgl. Höllinger 2009: 43ff.).

Gedenkveranstaltungen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Gedenkveranstaltungen häufiger abgehalten. Einerseits als Zeichen des Hinwegkommens über das NS-Regime, anderseits um eine stabile Demokratie zu demonstrieren, die durch die Teilnahme von Vertreter:innen aller Parteien gezeigt wurde. Im Salzkammergut fanden die Gedenkfeiern im ehemaligen Konzentrationslager Ebensee für die Opfer des Nationalsozialismus und in Bad Ischl für die Opfer des Widerstands statt (vgl. Quatember et al.: 2024: 168ff.).

Ab 1949 verloren die Gedenkfeiern wieder an Bedeutung, begründet durch die Rehabilitierung ehemaliger Nazis sowie der Entstehung der Opferthese. Dabei wurde die Ansicht vertreten, dass Österreich in der Zeit des Nationalsozialismus nicht Täter, sondern Opfer gewesen sei (vgl. Schwanninger 2013: 193). Erst 1991 bekundete der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky erstmals offiziell im Namen der Republik Österreich das Bekenntnis zur „Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben“ (vgl. Pechar 2018). Obwohl die NS-Vergangenheit nun kritischer betrachtet wurde, existiert dieser Opfermythos in den Köpfen etlicher Österreicher:innen bis heute.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit Bad Ischls im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres

Um diversen Argumentationsmustern entgegenzutreten, plante das Organisationskomitee der Kulturhauptstadt zahlreiche Projekte, die durch eine zeitgenössische Reflexion der imperialen und der nationalsozialistischen Vergangenheit eine kritische Erinnerungskultur schaffen sollen.

Macht und Tradition – Erinnerungskultur war ein Überthema. Die Ausstellung k. und k. kritisch und kontrovers. Die Habsburgermonarchie aus verschiedenen Blickwinkeln im Kurpark beleuchtete das ‚kaiserliche Bad Ischl῾. Informationstafeln informierten über den Ersten Weltkrieg, der zum Desaster Europas am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde (Salzkammergut 2024_k.-u.-k.-kritisch-und-kontrovers).

Ein weiteres Projekt sind die ‚Stecknadeln der Erinnerung῾, projektiert von der Künstlerin Teresa Distelberger; die Orte mit NS-Bezug markieren. Rote Köpfe befinden sich auf hüfthohen Eisenstangen. Informationen im Inneren der aufklappbaren Stecknadeln geben über spezielle Themen, beispielsweise über Widerstandsgruppen, Auskunft. QR-Codes führen zu näheren Erläuterungen, Kurzfilmen oder Musikstücken. Fragen wie ‚Wie hätte ich gehandelt? ‛ sollen die Leser:innen zum Nachdenken auffordern (Salzkammergut 2024_Stecknadeln der Erinnerung).

Eine dritte Thematisierung der Vergangenheit gestaltete die japanische Künstlerin Chiharu Shiota. Im Stollen des ehemaligen Konzentrationslagers in Ebensee schuf sie die raumgreifende Installation Wo sind wir jetzt?  bestehend aus roten Seilen und 25 überdimensionierten Kleidern. Sie realisiert damit ihr Konzept ‚Anwesenheit in Abwesenheit῾. Das Kleid ist für die Künstlerin wie eine zweite Haut, wogegen die dritte Haut – Gebäude – uns vor der Außenwelt schützen. Ebenso soll diese Installation an die Frauen von Ebensee erinnern, die den inhaftierten Männern, die im Stollen Zwangsarbeit leisten mussten, Brot brachten und dafür bestraft wurden (Salzkammergut 2024_Chiharu- Shiota-Wo-sind-wir-jetzt?).

Chiharu Shiota (Foto © M. Resch)

Für die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut 2024 Elisabeth Schweeger war die Beteiligung von Kunstschaffenden der Avantgarde bedeutend, um so auch die zeitgemäße Aufarbeitung historischer Ereignisse zu demonstrieren (vgl. Leibold 2024). Die Integration solcher Themen, vor allem aber die Präsentation neuer Erkenntnisse im Kulturhauptstadt-Programm betont die anhaltende gesellschaftliche Bedeutung der Erinnerungskultur, und das Bemühen von Kulturverantwortlichen für die Gestaltung einer bewussten und aufgeklärten Zukunft. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Erik de Goederen, der Inhaber der Verlagsbuchhandlung der Kurdirektion, die ein lokaler Austragungsort für kulturelle und gesellschaftliche Fragen ist, glaubt, dass die Auswirkungen der Kulturhauptstadt nur kurzlebig sind (vgl. Leibold 2024).

Die Programmverantwortlichen der Kulturhauptstadt Salzkammergut Bad Ischl 2024 wollten mit dem Überthema Macht und Tradition ‚Erinnerungslandschaften῾ aufbauen: „Das genaue Erkennen von Macht und Tradition, deren Wechselwirkungen und Beeinflussung ist Voraussetzung, um lokale und globale Identitäten in ihrem Wandel zu verstehen und zu respektieren“ (Salzkammergut 2024_Macht-und-Tradition). Eine Bilanz über die Nachhaltigkeit der durchgeführten Projekte lässt sich erst in einigen Jahren ziehen: Welche Spuren haben einzelne Konzepte hinterlassen, oder was hätten die Verantwortlichen besser machen können?

Literatur und Quellen

Arnbom, Marie-Theres (2017): Die Villen von Bad Ischl. Wenn Häuser Geschichten erzählen, Wien: Amalthea Verlag.

Arnbom, Marie-Theres (2021): Die Villen vom Ausseerland. Wenn Häuser Geschichten erzählen, Wien: Amalthea Verlag.

Bayern 2: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/nah-dran/gut-besser-bad-ischl-bilanz-der-europaeischen-kulturhauptstadt-2024_x-100.html  (10.11.2024).

Cornelißen, Christoph (2012): Erinnerungskulturen. Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012. Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. https://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Corneli%25C3%259Fen  (10.10.2024)..

Höllinger, Nina (2009): Vermögensentzug („Arisierungen“) an jüdischen Liegenschaften in Bad Ischl, in: betrifft widerstand, Bd.92, Hrsg. Verein Zeitgeschichte. Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee, S.19-25.

Höllinger, Nina (2009): Die Rückstellung von „arisierten“ Liegenschaften in Bad Ischl, in: betrifft widerstand, Bd.94, Hrsg. Verein Zeitgeschichte. Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee, S.43-47.

Höllinger, Nina (2011): Die Causa Löhner. Vermögensentzug („Arisierungen“) an jüdischen Liegenschaften in Bad Ischl, Medienbegleitheft zur DVD 12491, Hrsg.: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur.

Höllinger, Nina (2024): „Habt ihr meiner vergessen?“ Das Leben verfolgter jüdischer Familien im Salzkammergut, Widerstandsverlag Ebensee.

Leibold, Christoph (2024): Gut, besser, Bad Ischl? Podcast Bayern 2 vom 28.10.2024.

Neiß, Herta (Hrsg.)/John, Michael (Hrsg.) (2024): Sehnsucht Salzkammergut, Wien: Böhlau Verlag.

Nowotny, Ingrid (2021): Das Haenel-Pancera Familienmuseum in Bad Ischl, in: David. Jüdische

Kulturzeitschrift, 33.Jg, Nr.129, Juni 2021, Ebenfurth: DAVID – Jüdischer Kulturverein, S.40-43.

Pechar, Brigitte (2018): Anschluss und Opferthese, (Wiener Zeitung vom 8. März 2018), in: Austria-Forum, TU-Graz. https://austria-forum.org/ (09.10.2024).

Quatember, Wolfgang/Felber, Ulrike/Robinek, Susanne (2024): Politisches Salzkammergut, Republiksgeschichte 1918 – 1938/1945 – 1955, 2.Aufl., Zeitgeschichte Museum Ebensee.

Salzkammergut 2024. European Capital of Culture. Bad Ischl Salzkammergut.

https://www.salzkammergut-2024.at /wp-content/uploads/2024/04/22042024-PT-Macht-und-Tradition.pdf. (13.11.2024).

Schwanninger, Florian (2011): Erinnern und Gedenken in Oberösterreich. Eine historische Skizze der Erinnerungskultur für die Opfer des Nationalsozialismus, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs, Bd. 23, S.171-261.

Strasser, Christian/ Lehner, Gerald/ Robinek, Susanne (2024): Im Schatten von Hitlers Alpenfestung. Reiseführer durch die braune Topografie Salzkammergut, Wien: Czernin Verlag.

Wagner, Verena (2023): Eine jüdische Gemeinde in Bad Ischl, Linz: Oberösterreichisches Landesarchiv.

Zeitschriften:

betrifft widerstand, Hrsg. Verein Zeitgeschichte, Museum und Gedenkstätte Ebensee.

David. Jüdische Kulturzeitschrift, Ebenfurth: DAVID – Jüdischer Kulturverein.