Tradition trifft Innovation
Musik spielt im Programm der Kulturhauptstadt Salzkammergut 2024 eine wichtige Rolle. Ausgewählte Projekteinreichungen wie der Goiserer Almsommer und Silent Echoes von Bill Fontana zeigen den Anspruch, über Musik zukunftsorientierte Ansätze im Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen und ökologischen Fragen zu entwickeln. Der Goiserer Almsommer postuliert die `Bewahrung lokaler Traditionen´, während Silent Echoes globale Herausforderungen wie den Klimawandel thematisiert und technologische Innovation mit Kunst verbindet.
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Musik-Projekte im Bewerbungsprozess für das Kulturhauptstadt-Programm
Der Goiserer Almsommer und Silent Echoes sind Musikprojekte, die für das Programm der Kulturhauptstadt 2024 eingereicht wurden. Während ersteres abgelehnt wurde, wurde letzteres in das Programm aufgenommen. Die Auswahlkriterien für die Projekte im Programm der Kulturhauptstadt Salzkammergut 2024 orientierten sich an vier Programmlinien: Macht und Tradition, Kultur im Fluss, Sharing Salzkammergut – Die Kunst des Reisens, und Globalokal – Building the new (vgl. Programmheft Kulturhauptstadt). Die Aufnahme eines Projekts in das Programm der Kulturhauptstadt 2024 war an das Erfüllen spezifischer Kriterien geknüpft. Die Projekte sollten zukunftsorientierte Ansätze präsentieren und dabei idealerweise technologische Innovation mit Kunst verbinden oder globale Herausforderungen wie den Klimawandel thematisieren (vgl. Programmbuch Kulturhauptstadt: 36 – 37).
Neben dem innovativen Ansatz war es wichtig, dass die Inhalte regional gebunden und dennoch überregional relevant waren (ebd.). Projekte sollten aus der Region stammen und für die dort lebenden Menschen von Bedeutung, gleichzeitig aber auch über die regionalen Grenzen hinaus von Interesse sein und Themen von internationaler oder europäischer Bedeutung aufgreifen (ebd.: 22 – 23). Ein weiterer wesentlicher Aspekt war ein interdisziplinärer und dialogischer Ansatz (ebd.). Die Projekte sollten zudem disziplinübergreifend gestaltet sein, wie es etwa bei der zeitgenössischen Kunstbewegung Hybrid Art der Fall ist, die Elemente aus Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft vereint, um neue Perspektiven zu schaffen. Wie kam es also dazu, dass der Goiserer Almsommer als Projekt abgelehnt und Silent Echos ins Programm aufgenommen wurde? Die folgende Analyse bietet Erklärungsansätze.
Der Goiserer Almsommer
Das Projekt Goiserer Almsommer, das erfolglos bei der Kulturhauptstadt eingereicht worden war, verfolgte das Ziel, die Volksmusik im Salzkammergut wiederzubeleben und dabei das Vermächtnis des Sängers und Bergbauern Josef Reisenbichler (1839–1914), bekannt als der ‚singende Wölfl‘ oder ‚singade Wöfö‘, in den Mittelpunkt zu stellen. Der Organisator des Goiserer Almsommers, Werner Miklautsch (persönliche Kommunikation: 30.07.2024), recherchierte zu dessen Leben und Werk. Reisenbichler, der Bauer in Bad Goisern war, übernahm die Landwirtschaft des Vaters und führte diese am Rehkogel fort. In seinem Podcast [A Gmiatliche Stund – Singender Wölfl aus Goisern] berichtet Miklautsch, dass Reisenbichler bei der monotonen Arbeit als Bergbauer, wie beispielsweise beim Jäten, Pflücken und Ernten, oft Gedanken kamen, die er spontan in Verse fasste, mit seiner Gitarre vertonte und später zum Besten gab. In der Nachbarschaft wurde sein musikalisches Werk aufmerksam verfolgt, insbesondere sonntags nach dem Kirchgang sprachen ihn die Dorfbewohner:innen auf seine musikalischen Darbietungen an. Reisenbichler trat in Gaststätten auf, in denen das Gitarrenspiel eine alltägliche Aktivität darstellte, und sorgte durch seinen ironischen Stil für Unterhaltung und Belustigung.
So heißt es auszugsweise in seinem Lied Der Ausweis (Reisenbichler o.D.: 43):
Drum biñ i ållwal in Wirtshaus, i;
Miassts nid moan, da´i gern sauf.
Dahoam hå i Koa rechti Freid nid i,
Drum hålt i mi nix auf.
D´Årbat schmeckt ma gå´nid guat.
Dås is a Grail fir mi.
A Weib, hå i, die s alloañ ålls thuat,
Åwa saufn thua schoñ i.
Reisenbichlers Lieder gewähren Einblick in die Lebensrealitäten des 19. Jahrhunderts und zeigen die Herausforderungen und Beschwerlichkeiten, denen die Menschen in einem einfachen, bäuerlichen Leben ausgesetzt waren.
In den Versen des zitierten Lieds Der Ausweis beschreibt das lyrische Ich, dass es häufig das Wirtshaus aufsucht – nicht aus Liebe zum Alkohol, sondern um dem eintönigen und unbefriedigenden Alltag zu entkommen. Die dargestellte Lebensrealität ist geprägt von einer Abneigung gegen die harte, körperliche Arbeit, die für Bergbauern zu bewältigen hatten. Das Wirtshaus wird so zu einem Ventil, das Ablenkung von den Lasten und Herausforderungen des Lebens verschaffen soll. Zwar übernimmt die Ehefrau die Hausarbeit und die alltäglichen Pflichten, doch mildert die Frustration des lyrischen Ichs nicht – er geht weiterhin ins Wirtshaus. Sein Umgang mit Ehe- und Haushaltspflichten zeigt seine Haltung gegenüber dem geregelten Leben, die er als lästige Notwendigkeit betrachtet.
Der ironische Ton lässt erahnen, dass das Lied nicht nur eine Klage sein soll, sondern dass das lyrische Ich seine Lebenssituation auch humorvoll betrachtet. Es scheint sich der Absurdität seiner eigenen Entscheidungen bewusst zu sein. Mit dieser Art von Liedern unterhielt Reisenbichler einst seine Zuhörer:innen. Insgesamt hat Reisenbichler im Laufe seines Lebens eine Vielzahl von erzählerischen und satirischen Gelegenheitsdichtungen verfasst, die sich durch eine hohe Anzahl von Strophen auszeichnen (Reisenbichler o. D.: 4) – ein Gstanzl umfasst bis zu 50 Versen (ebd.).
Der Goiserer Almsommer verfolgt laut dem Organisator Walter Miklautsch das Ziel, diese Lieder und Reisenbichler für die Menschen der Region lebendig zu erhalten (persönliche Kommunikation: 30.07.2024). Mit seinen Recherchen über den ‚singenden Wölfl‘ strebt Walter Miklautsch eigenen Aussagen zufolge eine möglichst ‚umfassende‘ Darstellung von Reisenbichlers Leben und Wirken an (ebd.). Der Goiserer Almsommer beabsichtigt damit, eine spezifische Tradition der Volksmusik ‚wiederzubeleben‘ und eine historische Figur zu würdigen.
Damit fokussierte sich der Goiserer Almsommer vermutlich zu stark und ausschließlich auf die lokale Volksmusiktradition, um den Kriterien der Kulturhauptstadt 2020 zu entsprechen. Innovation und überregionale Relevanz waren nicht zu erkennen.
Das Projekt Goiserer Almsommer fand zwar keinen Eingang in das Programm der Kulturhauptstadt, führte aber immerhin im Eventjahr 2024 zur Anbringung einer Gedenktafel zu Ehren Reisenbichlers an der Außenwand des Heimatmuseums in Bad Goisern. Dabei handelte es sich allerdings um Eigen- und Privatinitiative Werner Miklautsch mit Unterstützung weiterer Personen aus dem Salzkammergut.
Silent Echoes
Silent Echoes ist ein Projekt des US-amerikanischen Künstlers Bill Fontana, das, wie andere Projekte des Künstlers zuvor, die Praxis der Relokalisierung und der Positionierung von Klangskulpturen als Kunstform im öffentlichen Raum verfolgt (vgl. Drees 2009: 459). Von der offiziellen Eröffnung des Projekts im Zuge der Kulturhauptstadt am 3. September 2024 bis zum Saison-Ende (Mitte Oktober) präsentiert die begehbare Dachstein-Rieseneishöhle, ca. 25 km von Bad Goisern entfernt, den Besucher:innen mit Silent Echoes eine Welt aus Licht, Klang und Stille.
Diejenigen, die Silent Echoes nicht persönlich sehen konnten, können sich anhand des Werbevideos der Kulturhauptstadt einen Eindruck verschaffen. Die kühle Temperatur und das Echo der Eiskammern scheinen das Klangerlebnis in der Eishöhle zu verstärken und die Tropfgeräusche des schmelzenden Eises sowie durch die Höhlenwände wandernde Klänge eine beinahe mystische Atmosphäre zu erzeugen, welche die Besucher:innen dazu anregen soll, innezuhalten und sich auf die sensorische Erfahrung der Umgebung einzulassen. Diese Erfahrung ermöglicht den Besucher:innen ein Erlebnis, das über das reine Beobachten bzw. akustische Wahrnehmen hinausgeht. In Silent Echoes versucht der Künstler die Verbindung zwischen Mensch und Natur für die Besucher:innen auf neue Weise erfahrbar zu machen, indem Klangkunst, Naturgeräusche und Stille in einem Kunstobjekt vereint werden. Es handelt sich dabei um eine experimentelle und ‚kulturelle Produktion in der Gegenwart‘, die nicht nur beeindruckende geologische Formationen und folkloristische Musikstücke verbindet, sondern auch zu Reflexionen über die Beziehung des Menschen zur Natur anregen möchte. Damit betont das Projekt die ästhetische und symbolische Bedeutung der Natur im Sinne eines ökologischen Ansatzes von Kunst (vgl. Witek 2021: o.S.). Im Mittelpunkt steht eine immersive Erfahrung, in der die Besucher:innen in der Eishöhle ‚Teil‘ der Umgebung und eines reflexiven Moments werden.
Die Aufnahme von Silent Echoes ins Programm der Kulturhauptstadt zeigt, wie stark das Auswahlkomitee innovative und interdisziplinäre Projekte einzubinden suchte, die über das Lokale hinaus internationale Relevanz haben und zukunftsorientierte Themen ansprechen. Silent Echoes bietet den Besucher:innen ein neuartiges Erlebnis, das als Hybrid Art betrachtet werden könnte. Nach Victoria Vesna befindet sich Hybrid Art „zwischen, um, über und unter“ dem, was typischerweise von der Gesellschaft als Kunst anerkannt wird (Sick-Leitner, 2015). Diese Form der Kunst ist experimentell und hinterfragt etablierte Grenzen und Definitionen, weshalb sie oft nicht als Kunst im herkömmlichen Sinne wahrgenommen wird (ebd.). In den Worten Vesnas reflektiert Hybrid Art die gegenwärtigen, oft extremen globalen Veränderungen und reagiert auf die dynamische Entwicklung in Wissenschaft und Gesellschaft (ebd.). Die Zusammenarbeit zwischen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen wird dabei immer wichtiger, da traditionelle Forschungsansätze nicht mehr ausreichen, um aktuelle Entdeckungen adäquat zu erfassen (ebd.).
Gesellschaftspolitische Dimension von Kunst und ihre Umsetzung
Der Künstler Bill Fontana verknüpft in seinen Werken Kunst und Technologie, um Themen wie Umweltzerstörung und Globalität zu verbinden. So zielt Silent Echoes darauf ab, das Bewusstsein für ökologische Themen zu schärfen und die Besucher:innen dazu zu ermutigen, über ihre eigene Beziehung zur Umwelt nachzudenken. Mit Silent Echoes will der Klangkünstler Bill Fontana somit ein künstlerisches Statement zu den Folgen des Klimawandels setzen (Kulturhauptstadt Salzkammergut 2024, 2024). Das Projekt kombiniert die Klänge der Glocken der Pariser Kathedrale Notre-Dame mit den Geräuschen des schmelzenden Dachsteingletschers und schafft so eine Verbindung zwischen zwei ikonischen Orten, die unabhängig voneinander existieren. Anstatt die Geräusche nur regional im Salzkammergut zu präsentieren, überträgt Silent Echoes die Klänge an verschiedene Orte in Österreich – etwa in die Klangpassage im MuseumsQuartier Wien, den Mariendom in Linz oder das Kunsthaus Graz.
Um den Klang der Glocken einzufangen, installierte Fontana 2021 Beschleunigungsmesser an der ältesten Glocke Notre-Dames, Emmanuel, wodurch er deren ‚Herzschlag‘ hörbar machte (Stoilas, 2024). Trotz des Brandes der französischen Kathedrale 2019 blieben der Glockenturm und die großen Bronzeglocken unversehrt und sind auch während der Restaurierung hörbar (ebd.). Unterstützt vom IRCAM (Institute for Research and Coordination in Acoustics/Music), das 1977 vom Komponisten und Musiktheoretiker Pierre Boulez gegründet wurde, konnte Fontana 2022 die Installation Silent Echoes: Notre-Dame zunächst auf der Dachterrasse des Centre Pompidou in Paris einrichten. Im Rahmen der Kulturhauptstadt 2024 brachte Fontana die Glockenklänge nun in die Eishöhlen des Dachsteins und schuf die Klanginstallation Silent Echoes: Dachstein. Um eine Soundaufnahme des Gletschers zu bekommen, reiste Fontana im September 2023 mit einem Ingenieur des französischen Instituts für Klang- und Musikforschung (IRCAM) nach Oberösterreich. Dort, im Inneren des Dachsteins befindet sich ein Gletscher, der aktuellen Prognosen zufolge durch den fortschreitenden Klimawandel in einigen Jahren möglicherweise nicht mehr existieren wird. Nach aktuellen Messungen könnte der Dachstein-Gletscher in 15 Jahren bereits vollständig verschwunden sein (Programmheft Silent Echoes). Durch die Hörbarmachung der Gletscherschmelze soll ein Bewusstsein für die Auswirkungen des Klimawandels geschaffen werden. Damit werden mit Silent Echoes aktuelle und gesellschaftlich relevante Anliegen adressiert.
Die Projekte Goiserer Almsommer und Silent Echoes im Kontrast
Aus meiner Analyse ergibt sich, dass der Goiserer Almsommer und Silent Echoes unterschiedliche Zugänge zur Musik und zum Kulturerbe in der Region repräsentieren. Während der Goiserer Almsommer sich auf die Bewahrung regionaler Tradition konzentriert, verkörpert Silent Echoes einen interdisziplinären, zukunftsorientierten Ansatz, der Kunst und Technologie vereint, um globale Themen wie den Klimawandel anzusprechen. Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Kirshenblatt-Gimblett (1995) hat verschiedentlich konstatiert, dass das Kulturerbe in der Gegenwart oft neu ‚produziert‘ wird, indem es traditionelle und innovative Elemente verbindet. Im Gegensatz dazu fehlt dem Goiserer Almsommer ein interdisziplinärer und dialogischer Ansatz, wie es im EU-Programm gefordert wird. Indem Silent Echoes Symbole aus Frankreich und Österreich vereint, fördert es den europäischen Austausch und zeigt, wie Kunst grenzübergreifend für gemeinschaftliche Werte wie den Naturschutz sensibilisieren kann. Silent Echoes ist somit eine Klangbrücke zwischen den Glocken der Kathedrale Notre-Dames in Paris und dem Gletscher im österreichischen Dachstein.
Schlussendlich bleibt abzuwarten, ob der Goiserer Almsommer in der Anbringung der Plakette in Bad Goisern sein Ende gefunden hat oder die Besucher:innen in Zukunft diese Veranstaltung in einem anderen Rahmen besuchen werden können. Im Falle von Bill Fontana darf man darauf gespannt sein, welches Naturwunder oder welche Sehenswürdigkeit er als Nächstes in ein Kunstobjekt verwandelt.
Literatur und Quellen
Drees, Stefan (2009). Bill Fontanas »urban sound sculptures« und die Idee der Relokalisierung von Klängen, in: Drees, Stefan/ Jacob, Andreas/ Orgass, Stefan (Hrsg.), Musik – Transfer – Kultur. Festschrift für Horst Weber. Folkwang-Studien Bd.8. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, S. 459–474.
Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (1995). Theorizing Heritage. Ethnomusicology, 39(3), S. 367–380. https://doi.org/10.2307/924627
Miklautsch, Werner (9.5.2024). Almsommer2024. Um´s Eck umigschaut [Podcast]. https://cba.media/662669
Reisenbichler, Josef [Komponist]/ Koeberl, Michael [Dokumentierte Person]/ Mautner, Konrad [Aufzeichner]. (o. J.). Lieder komponiert von Josef Reisenbichler folga Wöfö mit einem Anhang: ’ „Neuars Lieder“ von demselben. Österreichische Nationalbibliothek (IDN: =152394).
Kulturhauptstadt Salzkammergut 2024. (2024, 7. September). Silent Echoes – Salzkammergut 2024. https://www.salzkammergut-2024.at/veranstaltungen/silent-echoes/
Sick-Leitner, Madgalena (2015, 24. März). What is Hybrid Art? – Ars Electronica Blog. Ars Electronica. https://ars.electronica.art/aeblog/en/2015/03/24/was-ist-hybrid-art/ [2.11.2024].
Stoilas, Helen (2024, 2. September). Silent echoes: flame and frost meet in Bill Fontana’s latest sound installation. The Art Newspaper – International Art News And Events. https://www.theartnewspaper.com/2024/09/02/silent-echoes-flame-and-frost-meet-in-bill-fontanas-latest-sound-installation [2.11.2024]
The Art Newspaper. (2022). The Art Newspaper Podcast on Silent Echoes Notre Dame. https://resoundings.org/MP3/Art_Newspaper_Podcast_on_SIlent_Echoes_Notre_Dame.mp3
Witek, Dominic (2021, 1. Februar). Kunst und Natur: die Entstehung der ökologischen Kunst. Artsper Magazin. https://blog.artsper.com/de/ein-naeherer-einblick-de/kunst-und-natur-die-entstehung-der-okologischen-kunst/