Wie das Wollsymposium Resonanzerfahrungen ermöglichte
„Unbezahlbar, berührend, einmalig“ (Feldtagebuch, Pos. 426) und „der volle Wahnsinn“ (Interview 2, Pos. 21) – so beschreiben Teilnehmende das Wollsymposium im Juni 2024. Diese Wahrnehmungen können als Resonanzerfahrungen und Formen kollektiver Begeisterung gedeutet werden. Aber wie kamen diese zustande? Und welche Rolle spielte dabei die Gestaltung des Wollsymposiums?
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Im Programm, dem Bewerbungsbuch, aber auch in Interviews und Gesprächen im Rahmen der Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut kommt die Vorstellung zum Ausdruck, dass gesellschaftliche Transformation bewirkt werden kann, indem die einzelne Person durch Kunst und Kultur dazu angeregt wird sich selbst zu verändern. Mehr dazu im Text Wandel durch Kultur (hier klicken).
Am Beispiel einer Veranstaltung der Kulturhauptstadt – des Wollsymposiums in Ebensee – untersuche ich, wie genau diese Veränderung durch ein Kulturprogramm gestaltet wird und welche Wahrnehmungen und Wirkungen dies bei den Teilnehmenden hervorruft.
Die Auswertung des ethnografischen Materials (die Ergebnisse beschreibe ich ausführlicher im Text ‚Woll-Lust bei der Kulturhauptstadt: hier klicken) ergab, dass die Teilnehmenden das Wollsymposium als außergewöhnlich bereichernde Veranstaltung wahrnahmen. Eine zentrale Rolle schien dabei die gemeinsame Arbeit mit dem Material Wolle zu spielen, welche besondere soziale Verbindungen ermöglichte.
Resonanz als Deutungsmöglichkeit dieser Erfahrungen
Die Erfahrungen der Teilnehmenden des Wollsymposiums können mit der Theorie des Soziologen Hartmut Rosa als Resonanzerfahrungen interpretiert werden (vgl. Rosa 2016).
Rosa nutzt den Begriff ‚Resonanz‘, um eine bestimmte Art von Wahrnehmung zu beschreiben, die entsteht, wenn Menschen eine Beziehung zu Dingen, anderen Menschen oder der Welt generell eingehen (vgl. ebd.: 331). In einer solchen Resonanzbeziehung entsteht ein gegenseitiges Berühren und Berührt-Werden. Laut Rosa erleben Menschen in Resonanzerfahrungen, wie sie selbst verändert werden und andere verändern (vgl. ebd.: 285, 298).
In den folgenden Äußerungen von zwei Wollexpertinnen wird deutlich, wie der Werkstoff Wolle Resonanzerfahrungen ermöglicht:
„Man nimmt sich als selbstwirksam wahr. Es ist einfach, man tut was. Nicht nur des Tuns willens, sondern es kommt ja auch was Tolles raus dabei. Ja und man gibt da so viel von sich selbst mit hinein. Man entdeckt sich immer wieder aufs Neue. Ja, durch diese Tätigkeit. (..) Und man sieht so oft im Garn, wie es einem geht“ (Interview 2, Pos. 49).
„Es ist dieser lebendige Werkstoff. Der immer wieder einlädt, herausfordert, in alle Höhen und Tiefen der Emotionen hinbringt“ (Interview 3, Pos. 13).
Die Teilnehmenden beschreiben ihre Interaktionen mit dem Material Wolle als eine aktive Beziehung, in die sie etwas von sich hineingeben und auch etwas zurückbekommen. ‚Berühren‘ findet wortwörtlich im praktischen Tun statt und die taktilen Eigenschaften der Wolle führen zu Gefühlen des ‚Berührt-Werdens‘. Rosa nennt diese Beziehung zu Dingen und Tätigkeiten „diagonale“ Resonanz (vgl. ebd.: 331).
Eine weitere Form ist laut Rosa die „horizontale“ Resonanz (ebd.: 331). Sie entsteht in Beziehungen zu anderen Menschen. Die starken Gemeinschafts- und Verbundenheitsgefühle während des Wollsymposiums können als horizontale Resonanz gesehen werden. Deutlich wird dies beispielsweise an folgendem Zitat einer Wollexpertin:
„Und es ist ein wunderschönes sich auf einer Ebene zu begegnen mit allem, was wir wissen, können und uns noch gegenseitig zu öffnen“ (Interview 3, Pos. 22).
Die Gestaltung des Wollsymposiums ermöglichte Resonanzerfahrungen
Was hat dazu geführt, dass Resonanzerfahrungen möglich wurden? Im Zentrum stehen drei Charakteristika des Wollsymposiums, die die Wirkung der Veranstaltung auf die Teilnehmenden besonders prägten:
1– Der Fokus auf Wolle vereinfacht Resonanzerfahrungen
Eine grundlegende Eigenschaft von Resonanzerfahrungen ist laut Rosa, dass diese „unverfügbar“ (Rosa 2016: 298) sind. Das heißt, Resonanzerfahrungen können nicht erzwungen werden. Sie erfordern eine freiwillige Beziehung zwischen zwei Seiten (vgl. ebd.: 298, 319, 634). Dies hat zur Folge, dass Veranstaltungen, die es bewusst darauf anlegen, Resonanzerfahrungen zu erzeugen, häufig Bedingungen schaffen, die Resonanz erschweren (vgl. ebd.: 634). Sie instrumentalisieren Resonanz und nehmen ihr so ihre Basis (vgl. ebd.: 295).
Das Programm des Wollsymposiums ist stark auf die Sache hin ausgerichtet. Im Gespräch mit der Projektleiterin wird deutlich, dass das Ziel, die Nutzung von einheimischer Wolle zu fördern im Zentrum der Veranstaltung steht.1 Soziale Aspekte, wie Vernetzung und Wissensaustausch dienen diesem übergeordneten Ziel. Die Erfahrungen und Erlebnisse der Teilnehmenden sind kein Selbstzweck und werden nicht explizit angestrebt oder genau geplant. Dies hat zur Folge, dass die Veranstaltung nicht direkt auf die Schaffung von Resonanzerfahrungen abzielt und diese so umso besser entstehen konnten.
Dies unterscheidet das Wollsymposium maßgeblich von Veranstaltungen mit starkem Eventcharakter. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr gezielt und planvoll auf die Erzeugung von Emotionen ausgerichtet sind (vgl. z.B. Willems 2000: 53).
2 – Gemeinsame praktische Arbeit fördert Resonanz
Das Wollsymposium zeichnete sich zudem durch einen Fokus auf praktische Tätigkeiten aus. Rosa betont, dass Resonanz eine aktive Seite beinhaltet und die „Erfahrung handelnder Selbstwirksamkeit“ (ebd.: 393) benötigt. Diese entsteht, indem Personen erleben, selbst etwas gestalten zu können und damit einen Einfluss auf eine Sache oder eine Person zu haben (vgl. ebd.: 393). Der Hauptfokus des Wollsymposiums lag auf der praktischen Arbeit mit dem Material Wolle und dem Teilen dieser Kenntnisse mit anderen Personen und bot somit vielzählige Möglichkeiten, Selbstwirksamkeit im Tun zu erfahren und so diagonale Resonanz zu erfahren.
Warum entstanden beim Wollsymposium jedoch zusätzlich so intensive horizontale Resonanzerfahrungen?
Eine mögliche Erklärung findet sich beim Soziologen und Ethnologen Émile Durkheim. Dieser kam Anfang des 20. Jh. in seiner Arbeit zu Religion und Ritualen zum Ergebnis, dass physische Tätigkeiten eine große Rolle in der Entwicklung von starken positiven Empfindungen in Gruppensituationen spielen (vgl. Mattig 2023: 97). Durkheims Begriff der ‚kollektiven Efferveszenz‘2 beschreibt eine gemeinschaftliche Begeisterung, die in bestimmten Gruppensituationen durch Interaktion zustande kommt und zu intensiven Verbundenheitsgefühlen führen kann (vgl. Mattig 2023: 97–98). In dem von Durkheim untersuchten religiösen Kontext entstehen diese Gefühle in besonderen, nicht-alltäglichen Situationen durch gemeinsame Rituale und Symbole (vgl. Pettenkofer 2022: 129; vgl. Mattig 2023: 98). Auch in nicht-religiösen Gruppensituationen kann diese kollektive Begeisterung auftreten, insbesondere dann, wenn körperliche Interaktionen stattfinden (vgl. Mattig 2023: 98; vgl. Pettenkofer 2022: 129).
Es fällt auf, dass das Wollsymposium stark durch die Verbindung von körperlicher Betätigung und hoher Interaktionsintensität geprägt war. Über fünf Tage hinweg arbeiteten die Teilnehmenden gemeinsam mit dem Werkstoff Wolle. Der starke Fokus auf gemeinschaftliches praktisches Arbeiten könnte ähnlich wie die Rituale in Durkheims Arbeit gewirkt und zu starken horizontalen Resonanzerfahrungen geführt haben.
Ein Fokus auf die Sache verbunden mit praktischem, gemeinsamem Tun fördert also in besonderem Maße das Entstehen von horizontaler Resonanz.
3 – Zeit und Raum beeinflussen Resonanzerfahrungen
Rosa betont, dass Resonanz nicht nur ein Gefühl, sondern ein „Beziehungsmodus“ (2016: 280) ist. Da Resonanzerfahrungen Beziehungserfahrungen sind, benötigen sie in der Regel ausreichend Zeit für den Beziehungsaufbau. Das Wollsymposium ermöglichte es den Teilnehmenden, mehrere Tage lang zusammenzuarbeiten. Zudem war der Ablauf der einzelnen Tage nicht bis auf die letzte Minute verplant. So entstanden zeitliche Freiräume, welche die Teilnehmenden nutzten, um sich Zeit für gemeinsame Aktivitäten zu nehmen.
Zudem kann nur in Beziehung gehen, wer sich sicher und wohl fühlt (vgl. ebd.: 639). Die Raumgestaltung spielt dabei eine entscheidende Rolle (vgl. ebd.: 641). Beim Wollsymposium wurden die alten Klassenräume der Schule Ebensee für die Veranstaltung zum Thema passend gestaltet. Das Produkt Wolle war in allen Räumen in unterschiedlichen Formen und Farben präsent und prägte die Atmosphäre. In den Zimmern und Gängen wurden Kunstwerke aus Wolle ausgestellt, im selbst eingerichteten ‚Café‘ gab es einen kleinen Stand mit Wollprodukten und beim morgendlichen gemeinsamen Frühstück der Expert:innen Gruppe ergänzten selbstgepflückte Blumen die wollene Dekoration.
All dies trug dazu bei, dass das Wollsymposium zu einem „Wohlfühlort“ (Interview 2, Pos. 20) wurde, der Resonanzerfahrungen möglich machte.
Fazit
Resonanz ist Hartmut Rosa zufolge Grundlage „gelingenden Lebens“ (Rosa 2016: 749), die in unserer aktuellen Gesellschaft immer stärker gefährdet ist. Rosa sieht eine Hauptursache dafür in der modernen „Steigerungslogik“ (Rosa 2016: 46), die Wirtschaft und Gesellschaft durchdringt und dazu führt, dass sich Menschen von der Welt entfremdet fühlen und keine resonanten Beziehungen zu ihrer Umgebung aufbauen können. Die Folge sind gesundheitliche Probleme, eine geringere Fähigkeit sich zu verändern, aber auch die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen.
Das Wollsymposium veranschaulicht, welchen Beitrag Kulturveranstaltungen zur Schaffung von Resonanzräumen leisten. Sie können die Bedingungen dafür schaffen, dass Resonanzerfahrungen leichter möglich werden, stets im Bewusstsein, dass Resonanz sich nicht erzwingen lässt, wohl aber einladen.
- Weitere Einblicke zu diesem Ziel bietet der Dokumentarfilm ‚Wir Wollen — Regionale Wertschätzung von Schafwolle‘ von Hannah Charpin-Ziegler, welcher zum Teil auf dem Wollsymposium gedreht wurde: Link zum Film. ↩︎
- Rosa sieht in Durkheims kollektiver Efferveszenz eine Form von Resonanz (vgl. Rosa 2016: 335). ↩︎
Literatur & Quellen
Mattig, Ruprecht (2023): „Begeisterung als kollektive Efferveszenz“. In Die Kunst der Begeisterung: Anthropologische Erkenntnisse und pädagogische Praktiken, herausgegeben von Jörg Zirfas und Helga Peskoller. Beltz Juventa.
Pettenkofer, Andreas (2022): „Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens“. In Schlüsselwerke der Emotionssoziologie, herausgegeben von Konstanze Senge, Rainer Schützeichel, und Veronika Zink. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Willems, Herbert (2000): „Events: Kultur -Identität -Marketing“. In Events: Soziologie des Außergewöhnlichen, herausgegeben von Winfried Gebhardt, Ronald Hitzler, und Michaela Pfadenhauer. Erlebniswelten Ser, v. 2. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften GmbH.