Kultur als politisches Programm und Transformationsprozess
Kultur hat in Europa viele Aufgaben. Sie soll die Wirtschaft ankurbeln, die Gesellschaft weiterbilden, den Dialog fördern. Die Europäische Union setzt Kultur gleichzeitig zur Abgrenzung und Öffnung ein.
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Die Europäische Union nutzt das Zusammenspiel von Kunst, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft in ihrer Kulturpolitik; besonders in ihrem erfolgreichsten Programm: der Ernennung von Städten (und Regionen) zur ‚Kulturhauptstadt Europas‘. Diese Wechselwirkung hat in Europa eine lange Geschichte. In dem Buch Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert der Historiker Thomas Höpel und Hannes Siegrist wird die Funktion von Kunst und Kultur in Politik und Gesellschaft historisch aufgearbeitet. Die bis heute erkennbare Bedeutung von Kunst und Kultur auf Gesellschaft und Wirtschaft erklären die Autoren am Beispiel der Französischen Revolution:
„Die Französische Revolution leitete eine Neuordnung der Kultur- und Kunstlandschaft ein, die Schaffung von Berufsfreiheit, einer liberalen Kunstöffentlichkeit und einer Kultur- und Unterhaltungsindustrie“
(Höpel/Siegrist 2017: 29).
Die Aufklärung und in Folge die Französische Revolution leiteten die Säkularisierung der Kunst ein. Mit dem Entstehen einer bürgerlichen Gesellschaft organisierte sich die Kunstproduktion und damit die Inwertsetzung von Kunst neu. Staatliche Museen, Bibliotheken und Archive wurden in ganz Europa gegründet mit dem Auftrag, Bildung für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Kunst übernahm einen (nationalen) Bildungs- und Erziehungsauftrag, der sich bis heute fortsetzt.
Parallel zum Einsatz von Kunst und Kultur für Bildungszwecke entwickelte sich auf wirtschaftlicher Ebene mit zunehmender Industrialisierung und Kapitalisierung die Verwertung von Kunst und Kultur als Produkt, Ware und ökonomischer Faktor. Mit dieser neuen Bedeutungszuschreibung wurde Kunst im 19. und 20. Jahrhundert auch als Medium zur gesellschaftlichen und politischen Europäisierung bzw. De-Europäisierung verwendet. Kunst und Kultur avancierten zu Bausteinen europäischer und nationaler Identitätsbildung und erhielten politische Relevanz, wie Höpel und Siegrist hervorheben:
„Im Zeitalter der sogenannten Massengesellschaft wurde Kunst eingesetzt, um Gesellschaften zu mobilisieren, zu integrieren, zu kultivieren, zu repräsentieren; und um die Leistungs-, Wettbewerbs- und Kooperationsfähigkeit von Individuen und Organisationen zu steigern“ (Höpel/Siegrist 2017: 15f).
Die EU als kulturpolitische Union
Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Europäische Union als Friedensprojekt gegründet. Neben wirtschaftlicher Zusammenarbeit ist vor allem der Austausch in den Bereichen Bildung, Forschung, Sozialpolitik und Außen-beziehungen zwischen den unterschiedlichen Staaten und Kulturen ein Ziel der Union. Trotz der Vielfalt an ‚Identitäten‘, so die Annahme, wird Europa durch gemeinsame (historische) Werte geeint, und über diese soll eine gegenseitige Annäherung stattfinden. Kultur und Kulturaustausch tragen zur „Völkerverständigung“ bei, davon geht die EU aus (Habit 2011: 447). Damit schaffen sie Bewusstsein für ein geeintes Europa. Das Benennen der gemeinsamen Wertvorstellungen, trotz aller Differenz, ist die Kernidee der EU. Diese Elemente prägten den Ausbau der Europäischen Union von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer kulturpolitischen Union. Der empirische Kulturwissenschaftler Reinhard Johler schreibt in dem Buch Wo ist Europa?, es sei gerade der Umgang mit Differenz, der einen Zusammenhalt in Europa ermöglicht:
„Denn nur die Kultur – und nicht die wirtschaftliche Logik – würde jene Kräfte freisetzen, die eine Kohäsion in Europa langfristig sichern würde“ (Johler 2013: 10).
Die Kulturpolitik der EU hat jedoch nicht zum Ziel, nationale Kulturpolitik zu ersetzen, sondern als ‚added value‘ zu wirken. Sie ergänzt und unterstützt die Kulturpolitik der Mitgliedsstaaten. In diesem Sinne ist die Sichtbarmachung der vorhandenen Vielfalt das Motto: ‚Einheit in der Vielfalt‘. Die Zielsetzung ist, ein Gleichgewicht zwischen regionaler und nationaler Vielfalt in Einklang mit einem gemeinsamen europäischen ‚kulturellen Erbe‘ herzustellen.
Im Vertrag von Maastricht ist zu lesen, dass die EU bewusst auf eine konkrete Definition von Kultur verzichtete, um den Handlungsraum nicht einzuschränken. Keine ‚Form von Kultur‘ solle ausgeschlossen werden. Förderungswürdig seien sowohl die ‚schönen Künste‘ als auch die Neuen Medien und der audio-visuelle Bereich. Meines Erachtens nach vereinfacht der Kulturbegriff der EU damit Kultur lediglich auf unterschiedliche Kunstgenres (Wikipedia 2024, online).
Die Verleihung des Titels ‚Europäische Kulturhauptstadt‘ hält der Ethnologe Daniel Habit, der umfassend zum Thema geforscht hat, für das erfolgreichste Projekt innerhalb der europäischen Kulturpolitik:
„Bis 2014 haben demnach insgesamt 50 Städte an dem Konzept teilgenommen, das auf Grund seiner Dauer, der direkt oder indirekt involvierten Bevölkerungszahl, seiner geografischen Ausrichtung und seines Bekanntheitsgrades als erfolgreichstes Kulturprogramm der Union angesehen wird“ (Habit 2017: 249).
1985 formulierte die EU klare Parameter, was diese Auszeichnung für eine Stadt oder ein Gebiet bewirken soll. Durch die Kommodifizierung von Kunst und Kultur solle ein gesellschaftlicher Transformationsprozess eingeleitet werden, der eine Öffnung zu und Identifikation mit Europa zum Ziel hat. In einem Evaluationsbericht aus dem Jahr 2004 werden als positive Auswirkungen die Verbesserung der kulturellen Infrastruktur, ein verbessertes Kulturangebot, gestiegene Besucher:innenzahlen, eine große Bevölkerungsbeteiligung und ein gesteigertes Renommee genannt (vgl. Habit 2017: 251). Ob diese Steigerungen auch zu einer größeren Identifikation mit Europa geführt haben, bleibt offen.
Seit einer Neuregelung und Normierung des Leitfadens für die Programmgestaltung 2006 gibt es genaue Richtlinien für die Bewerbung und die finanziellen Zuwendungen. Die Auszeichnung strahlt vor allem einen hohen symbolischen Wert aus (vgl. EU-COM 2012, Habit 2012: 316). Damit machen diese Vorgaben das Programm zu einer Technik des Regierens (vgl. kulturorientierte Gouvernementalität, Reckwitz 2017: 372). Die EU fungiert dabei als Bezugsebene, während die nominierten Kulturhauptstädte in Eigenverantwortung planen und finanzieren (vgl. Habit 2017: 252ff).
Auch im 21. Jahrhundert setzt die EU die Fokussierung auf Kunst in ihrer Kulturpolitik fort, was Höpel und Siegrist wie folgt bestätigen:
„Wie sehr Kunst auch an der Wende zum 21. Jahrhundert als politisches Instrument für die kulturelle Vergesellschaftung genutzt wird, zeigen die Versuche der Europäischen Union, Identifikation über Kultur und Kunst zu stiften, oder soziale und wirtschaftliche Probleme in den europäischen Städten mit Hilfe von Kultur und Kunstprojekten zu mildern“ (Höpel/Siegrist 2017: 39).
Aber nicht alle Versuche der Identitätsstiftung in Richtung einer europäischen Zusammengehörigkeit sind von Erfolg gekrönt.
Sozialwissenschaftliche Diagnosen bieten Antworten: Sie erkennen die gesellschaftliche Entwicklung in der Spätmoderne hin zum Individuum und weg von der Gemeinschaft. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in dem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen von der industriellen Moderne zur Spätmoderne. Menschen und Dingen (auch Städten und Räumen) wird ein spezifischer Wert zugeschrieben und deren Besonderheit betont. Sowohl der einzelne Mensch als auch kulturelle ‚Waren‘ und im Fall der ‚Kulturhauptstadt‘ eine ganze Region, müssen sich durch Einmaligkeit auszeichnen und im Wettbewerb individualisieren. Objekte und Praktiken werden mit einem Wert jenseits der Funktionalität aufgeladen. Reckwitz nennt diesen Prozess die ‚Kulturalisierung des Sozialen‘. Er geht von mehreren historischen Brüchen aus. Einer davon ist der wirtschaftliche Strukturwandel von der alten industriellen Ökonomie zum Kulturkapitalismus.
„Der Kapitalismus der Kulturökonomie ist eine postindustrielle Ökonomie: ihre Güter sind im Kern
kulturelle Güter“ (Reckwitz 2017: 15f).
Kultur als Teil von Wirtschaft
Die Bedeutung von Kultur als ökonomischer Faktor in postindustriellen Gesellschaften zeigt sich auch an der Kulturhauptstadt Europas 2024, der Region Salzkammergut Bad Ischl: Das industrielle Gut Salz stellte lange Zeit die ökonomische Grundlage in der Region dar. Im Kontext des Kulturhauptstadtprogramms nimmt hingegen Kultur diese Rolle ein.
Wie sehr Kultur als Ware verkauft und kommodifiziert, also ökonomisch verwertet wird, ist eine mögliche Interpretation des Mottos der Kulturhauptstadt Bad Ischl: ‚Kultur ist das neue Salz‘. Kultur soll neuen Reichtum und regionale Besonderheit bringen.
Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der postindustriellen Ökonomie ist die ‚Creative Economy‘, die auch in Bad Ischl zum Zug kommt. Kreativität ist Ware und soll zum wirtschaftlichen Aufschwung beitragen.
Mit der Auszeichnung ‚Europäische Kulturhauptstadt‘ setzt die EU zwei bekannte und bewährte politische Funktionen von Kunst und Kultur ein: Einerseits dienen sie zur Bildung, Erziehung und Vernetzung einer breiten Bevölkerung und andererseits als wirtschaftlicher Motor für eine Stadt oder Region im Wandel.
Die von Reckwitz beschriebene Ausformung des Singulären in der europäischen Gegenwart macht eine Ver-gesellschaftung und Identifikation auf EU Ebene zu einer Herausforderung – denn neoliberale Politik setzt auf Konkurrenz. Eine Politik der Gemeinschaft, die eine Öffnung zu einem größeren Ganzen beabsichtigt, steht einer Politik des Besonderen und damit einer Abgrenzung gegenüber. Diese Spannung und Diskrepanz ist in der Kulturhauptstadt Bad Ischl spürbar.
Literatur & Quellen
Habit, Daniel (2011): Du bist Kulturhauptstadt. Formen einer Cultural Governance im EU-europäischen Selbstvergewisserungsdiskurs, in: Johler, Reinhard/Matter, Max/Zinn-Thomas, Sabine (Hg.): Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung, Tübingen: Waxmann Verlag, S. 432 – 441.
Habit, Daniel (2017): Europäische Kulturhauptstädte. Zwischen lokaler Eigenlogik und gesteuerter Harmonisierung, in: Höpel, Thomas, Siegrist, Hannes (Hg.): Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 249 – 256.
Höpel, Thomas/Siegrist, Hannes (2017): Politische und gesellschaftliche Funktionen von Kunst in Europa (19.+20.Jhdt), in: Höpel, Thomas, Siegrist, Hannes (Hg.): Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 13 – 40.
Johler, Reinhard (2013): Where is Europe? Dimensionen und Erfahrungen des neuen Europa. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde.
Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten, Zum Strukturwandel der Modernen, Berlin: Suhrkamp.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturpolitik_der_Europ%C3%A4ischen_Union
https://culture.ec.europa.eu/policies/culture-in-cities-and-regions/european-capitals-of-culture
https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/137/kultur Lina Sasse Autorin
Interview mit Schiller, Ines, 24.6.2024 Bad Ischl, Länge 16 Minuten